Ist Eye-Tracking nur „nice to have“?
Und beschränken sich die Anwendungen auf einige wenige Spezialfälle?
Das könnte man meinen, wenn man nur wissenschaftliche Artikel zu Eye-Tracking liest. Es scheint so, als ob sich mit Eye-Tracking nur viele kleine Partialprobleme lösen lassen würden. Jede dieser Problemlösungen ist überraschend und interessant, aber die universelle Bedeutung wird nicht sichtbar. Um zu verstehen, dass Eye-Tracking wirklich universale Bedeutung für unser Verstehen menschlicher Entscheidungen besitzt, ist es hilfreich, einen kurzen Blick auf diejenige Wissenschaft zu werfen, die eine solche universale Bedeutung für menschliche Entscheidungen hat: Die Mikroökonomie.
Die Mikroökonomie analysiert Kaufentscheidungen unter drei wichtigen, einschränkenden Annahmen:
1) Der Mensch hat alle relevanten Informationen aufgenommen, die er für eine Entscheidung benötigt.
2) Die Emotionen des Menschen sind für die Entscheidung völlig irrelevant.
3) Die beiden Vertragsparteien vertrauen vollständig einander, dass alle Vertragsbedingungen gemäß der Absprache auch eingehalten werden.
In solchen Fällen reduziert sich das Entscheidungskalkül des Menschen auf ein Problem der nichtlinearen Optimierung. Kennt man die Entscheidungsparameter (z. B. Preise und Einkommen des Konsumenten), so ergeben sich die beobachtbaren Entscheidungsvariablen (nachgefragte Menge) aus der Lösung des Optimierungsproblems und werden damit vorhersehbar. Steigt z. B. der Preis, so sinkt die nachgefragte Menge des Kunden.
In vielen Entscheidungssituationen sind aber diese beiden Annahmen nicht erfüllt.
1) Konsumenten haben die für die Entscheidung relevanten Informationen gar nicht aufgenommen.
2) Die Emotionen des Kunden sind sehr wohl für die Entscheidung mitverantwortlich.
3) Die beiden Vertragsparteien vertrauen einander nicht vollständig. Gerade im Online-Handel ist das Vertrauen der Vertragsparteien eine große Hürde für viele Vertragsabschlüsse.
Die universelle Aussagekraft mikroökonomischer Analyse ist in solchen Fällen dahin. Die beobachtbaren Entscheidungsparameter reichen dann nicht aus, um das Kaufverhalten zu erklären. Das Verhalten der Kunden wird aus Sicht des Anbieters unerklärlich. In realen Anwendungen greifen dann solche Analysen einfach zu kurz, weil sie nicht die Hinweise z. B. auf die Wahrnehmung und das Vertrauen der Kunden liefern können. Solche Hinweise sind aber erforderlich, damit Anbieter erkennen können, woran die mangelnde Nachfrage liegt und wo sie Veränderungen vornehmen müssen.
Die universale Bedeutung des Eye-Tracking für das Verstehen der menschlichen Entscheidungen
Die Informationsaufnahme und die emotionalen Reaktionen der Kunden sind weitere Entscheidungsparameter, die für eine sehr große Vielzahl von Entscheidungen ausschlaggebend sind. Sie sind universal und beschränken sich nicht auf „kuriose Spezialprobleme“. Das gilt für das Online Marketing, das Visual Merchandising, das Produkt- und Verpackungsdesign und die Nutzerfreundlichkeit von technischen Geräten. Der Informationsbedarf zur Wahrnehmung der Kunden und ihrer Emotionen ist deshalb für Unternehmen universal.
Der Bedarf der Unternehmen, Informationen zur Wahrnehmung und den emotionalen Reaktionen der Kunden zu bekommen, ist aber nicht nur universal in all diesen Bereichen, sondern dieser Bedarf steigt durch die extrem vielen Innovationen, die die Kunden betreffen. Denn die Kundengruppen werden immer heterogener und entsprechen immer weniger den Gruppen der Marketingleiter und der von ihnen beauftragten UX-Berater in Bezug auf ihr Alter, ihrer ethnischen Herkunft, Sprachkompetenz und Bildung.
„https://vimeo.com/199370706“
WSI Webinar: Website Accessibility and Its Impact on Your Digital Strategy for 2017 from WSI World on Vimeo.
Objektive Messung der Wahrnehmung und Emotionen der Kunden
In früheren Zeiten war es nicht möglich, die erforderlichen objektiven Daten über die Wahrnehmung und Emotionen der Kunden objektiv zu gewinnen. Die wissenschaftliche Forschung im Bereich der Mikroökonomie und des Marketing bis in die jüngste Vergangenheit spiegelt diese Datenarmut wider. Nur langsam diffundiert die Nutzung von Eye-Tracking in diese Wissenschaftsdisziplinen hinein. Unternehmen stehen aber unter einem hohen Wettbewerbsdruck und müssen deshalb schneller die universale Bedeutung von Eye-Tracking für die Informationsgewinnung zur Erklärung der Kundenentscheidungen nutzen. Deshalb können es sich nur Monopol-Unternehmen leisten, die irrige Ansicht zu vertreten, Eye-Tracking sei nur „nice to have“, aber eben nicht zwingend notwendig.
Identifikation der Friktionen bei der Diffusion der Digitalisierung durch Eye-Tracking
Eye-Tracking liefert aber nicht nur über die Kunden entscheidende Informationen für die Verbesserung des wirtschaftlichen Erfolges. Die Wahrnehmung und die Emotionen der Mitarbeiter und der Kapitalgeber sind für ihre Arbeitsproduktivität bzw. ihre Investitionsbereitschaft von entscheidender Bedeutung. Bereits in den 90er Jahren war die Verblüffung groß, dass trotz der Milliardeninvestitionen in IT die Arbeitsproduktivität nicht messbar angestiegen war. Dies ging dann als „IT Productivity Paradox“ in die empirische Wirtschaftsforschung ein. Für alle, die sich aber mit diesen extrem benutzerunfreundlichen IT-Systemen als untergeordnete Mitarbeiter haben herumärgern müssen, war dies ein alles andere als überraschendes Ergebnis, sondern lag auf der Hand. Hier ist es nicht der Kunde, der das letzte Wort über den wirtschaftlichen Erfolg hat, sondern die Mitarbeiter, die letztlich die Arbeit machen müssen, anstatt Arbeitszeit in Sitzungen mit Flip-Charts zu vergeuden.
„Backtracking Events as Indicators of Usability Problems in Creation-Oriented Applications“
https://www.youtube.com/watch?v=r6Rw8gCAJJw
Auch hier wiederholt sich die Geschichte. Es sind nicht mehr zählbar viele Konferenzen, Messen und Symposien, auf denen ganze Heerscharen von Unternehmensberatern immer wieder die gleichen Lobgesänge auf die unendlichen Wohltaten der Digitalisierung und der Industrie 4.0 oder 5.0 anstimmen. Die Friktionen aber, die die Diffusion dieser Innovationen und ihre messbaren Produktivitätszuwächse mindern, werden mit keinem Wort erwähnt.
Aber sie lassen sich messen, die Ursachen dieser Friktionen bei der Diffusion der Automatisierung. Vorausgesetzt, Eye-Tracking wird bei Usability Studien zur Human-Machine Interaction und der Human-Computer Interaction eingesetzt. Dann können die Ursachen der Benutzerunfreundlichkeit und der Arbeitszeitverschwendung offengelegt werden. Je stärker aber das Unternehmen hierarchisiert ist und je schwächer die Kontrolle der Manager durch die Eigentümer ausgeübt wird, desto stärker werden solche Studien zur selbstgefälligen Bestätigung der Arbeitsergebnisse der Manager missbraucht, die solche Studien in Auftrag geben.