Produktdesign: Usability

Immer Ärger mit der Usability

Wie viele Millionen Menschen weltweit werden sich beim Zusammenbauen der IKEA-Bausätze über fehlende Schrauben, absurde Bauanleitungen und untaugliche Stabilität geärgert haben? Aber auch Lebensmittelverpackungen können es in sich haben und zu tiefen Schnittwunden beim Öffnen der Mais-Dose, oder zu Milchüberschwemmungen auf dem Frühstückstisch führen. Sprichwörtlich war auch die Nutzerunfreundlichkeit in früheren Zeiten von Videorekordern, deren Bedienung von unseren Eltern nicht mehr ohne unsere Hilfe gemeistert werden konnte. In vielen Fällen würde es reichen, wenn der Vorstand einfach mal selbst die Produkte zusammenbauen, nutzen oder verbrauchen würde, die seine Vertriebsmitarbeiter unter das Volk bringen sollen. Blankes Entsetzen würde sich dann häufig bei den eigentlich Verantwortlichen einstellen.

Ökonomische Anreizprobleme bei Usability Studien

Bildnachweis: http://www.peakpx.com/576483/white-ceramic-ikea-round-plate

Frage: „Lassen sich solche Defizite durch Usability Studien offenbaren?“ Antwort: „Im Prinzip ja, aber…“ Die Qualität von Usability Studien leidet unter den ökonomischen Anreizproblemen der Vertrauensgüter, wie man sie auch in anderen Bereichen der Marktforschung antrifft. Die Intransparenz bei diesen Studien kann leicht dazu genutzt (missbraucht) werden, „dem König nur gute Nachrichten zu übermitteln“, also dem Marketingleiter Studienergebnisse zu liefern, die zeigen, wie phantastisch leicht die Kunden die einstürzenden Bücherregale zusammenbauen können. Solche Berichte sind für die erneute Beauftragung immer dann opportun, wenn der Auftraggeber nicht der Eigentümer des Unternehmens ist, dem die Sicht der Kunden tatsächlich wichtig ist.

Für Unternehmer bieten Eye-Tracking Studien hingegen nur Vorteile, denn die Studienergebnisse beruhen auf objektiven Daten und sind transparent. So schreibt der Chief Research Scientist, Applications User Experience der Oracle Corporation, Dr. Joseph H. Goldberg, in seinem Vorwort zu Bergstrom und Schall [2014, Seite xix]:

“Eye tracking is now accepted as a proven contributor in the arsenal of UX evaluation tools. The frequency of UX activities utilizing eye tracking has recently exploded, largely due to huge improvements in the calibration and usage of eyetracking hardware and software systems, coupled with cheaper costs. The coming of open source eye-tracking systems will further drive down these costs.”

Doch bei einem relativ großen Anteil der Anbieter von UX-Studien kann man annehmen, dass sie eher widerwillig diese neue Methode anwenden. Auch ein Vergleich der Anzahl der akademischen Studien, die durch eine Suche auf Google Scholar angezeigt werden, zeigt, dass nur etwa 10% dieser Arbeiten diese aufwendigere aber eben objektive Methode des Eye-Tracking überhaupt erwähnen (Anzahl der Suchergebnisse bei einer Suche nach “usability” UND “eye-tracking”: 12.200, im Gegensatz dazu:  Anzahl der Suchergebnisse bei einer Suche nach “usability” UND NICHT “eye-tracking” 116,000, jeweils  am 20. Juni 2017). Dies ist auch in der unterschiedlichen Anzahl von Büchern zum Thema Usability reflektiert, die Eye-Tracking erwähnen bzw. nicht erwähnen. Aber trotz dieser Defizite, lassen sich ausreichend viele wertvolle Bücher zum Thema Usability finden, die Eye-Tracking nicht nur in einer Fußnote abtun.

Die Wichtigkeit von Usability-Studien bei großen Diskrepanzen zwischen Entwicklern und Nutzern

Nutzerfreundlichkeit ist immer dann ein extrem wichtiges Problem, wenn die Konstrukteure und die Nutzer sehr unterschiedlich sind z. B. in Bezug auf ihre Sprachkompetenzen, Technikerfahrung und ihren Bildungsstand. Die schlechten Erfahrungen mit der Nutzerunfreundlichkeit der PC-Software der ersten Generationen, die noch für DOS geschrieben waren – die Digital Immigrants erinnern sich – sind ein gutes Beispiel dafür, dass Programme, die nur von Programmierern bedient werden konnten, nicht wirklich auf einen allzu großen Markt stoßen.

Ähnlich sieht es aus, wenn man Webseiten publiziert, die eine Sprachkompetenz voraussetzen, die weniger als 5% der Bevölkerung in der entsprechenden Zielgruppe haben. Da hilft es auch nichts, wenn man Usability Studien in Auftrag gibt, die dann „Think Aloud“ Befragungen einsetzen, wenn die Befragten die Überforderungen nicht offen zugeben wollen. Bildung und Sprachkompetenz definieren in unseren Gesellschaften für viele die soziale Stellung und Wertigkeit des Menschen. Defizite werden Probanden in „Think Aloud“ Sitzungen sehr selten offen zugeben, insbesondere dann nicht, wenn sie von denjenigen befragt werden, die ihnen in dieser Hinsicht überlegen sind und für die sich ja keine Überforderungen ergeben würden.

Diversity bei den Probanden und den Interviewpartnern

Usability setzt in unserer zunehmend heterogener werdenden Gesellschaft voraus, dass Diversity auch bei den Probanden und ihren Interviewpartnern entsprechend berücksichtigt wird. Doch Diversity ist auch heute noch für viele Unternehmen ein Fremdwort, das dort allenfalls in der Hochglanzbroschüre des Jahresabschlussberichtes auftaucht, aber eben nicht gelebte Realität ist. Die sogenannten „Randgruppen“, zu denen nicht nur Migranten und Menschen mit körperlichen Einschränkungen von denen gerechnet werden, die diese Gruppen exkludieren, werden immer größer. Nicht nur Migranten sind eine schnell wachsende Bevölkerungsgruppe, sondern natürlich auch die Senioren in unserer Gesellschaft. Senioren stellen aber nicht nur eine stark wachsende Bevölkerungsgruppe dar, sie sind es vor allem, die die vermögenden Kunden mit einem hohen Freizeitbudget stellen.

Screenshot Google am 1. Januar 2018.

Unternehmen, die diese Kundengruppen links liegen lassen, weil ihr Marketingleiter 35 Jahre jünger ist und dementsprechend Usability-Studien bei Unternehmen in Auftrag gibt, deren Mitarbeiter diese Bevölkerungsgruppe nur zu Weihnachten trifft, schaffen großartige Geschäftsgelegenheiten für ihre Konkurrenten. Unternehmen, die diese Märkte für sich entdeckt haben, werden Usability-Studien nur bei denjenigen Unternehmen beauftragen, deren Mitarbeiter die Diversity unserer Gesellschaft von heute ausreichend widerspiegeln.

Trotz dieser Widerstände aufgrund selektiver Wahrnehmung einiger Verantwortlicher setzt sich der Trend des „Universal Designs“ immer weiter durch, was wiederum zu steigenden Anforderungen an die Usability des Produktdesigns stellt. Deshalb beschäftigt sich das Buch von Borsci [2013] “Computer Systems Experiences of Users with and Without Disabilities: An Evaluation Guide for Professionals” nicht mit einem Nischenthema, sondern schärft den Blick für die Anforderungen von Gruppen, die so sehr außerhalb des eigenen Erfahrungsbereiches der meisten Menschen im Alter von 25-45 Jahren liegen.

Literaturhinweise

Wer sich weiterbilden will in Sachen Eye-Tracking für Usability Studien, dem seien die Bücher von Bojko [2013] und von Bergstrom und Schall [2014] empfohlen, die aufgezeigt haben, wie Eye-Tracking speziell für Usability Studien eingesetzt werden kann. Auch Albert und Tullis [2013] widmen sich ausführlicher der Anwendung von Eye-Tracking für Usability Studien. Zu nennen ist ferner das Kapitel von Goldberg und Wichansky [2002] in Hyönä, Radach, und Deubel, (Hrsg.) [2002] sowie die Dissertation von Chun [2014] und die Diplomarbeit von Nauth [2012].

 

Albert, William and Tullis, Thomas, [2013], Measuring the User Experience: Collecting, Analyzing, and Presenting Usability Metrics, Newnes, 2013.

Bergstrom, Jennifer Romano and Schall, Andrew, [2014], Eye Tracking in User Experience Design, Elsevier 2014.

Bojko, Agnieszka, [2005], “Eye Tracking in User Experience Testing:  How to Make the Most of It”, Proceedings of the UPA 2005 Conference, January 2005.

Bojko, Aga, [2013], Eye Tracking the User Experience: A Practical Guide to Research, Rosenfeld Media, 2013.

Borsci, Simone, [2013], Computer Systems Experiences of Users with and Without Disabilities: An Evaluation Guide for Professionals, Rehabilitation Science in Practice Series, CRC Press Taylor & Francis, Boca Raton, 2013.

Chun, Young Ji, [2014], Age-Related Visual Behavior and Search Strategies for Web-Based Information with Applications to Internet Telemedicine Systems, Dissertation, Industrial Engineering, Texas Tech University, December 2014.

Goldberg, Joseph H. and Wichansky, Anna M., [2002], “Eye Tracking in Usability Evaluation: A Practitioner’s Guide”, Whitepaper, March 2002, Oracle Corporation Advanced User Interfaces 500 Oracle Parkway MS 2op2 Redwood Shores, CA  9406, then to appear in: Hyönä, J., Radach, R. and Deubel, H. (Hrsg.), [2002], The Mind’s Eyes: Cognitive and Applied Aspects of Eye Movements, Elsevier Science, Oxford, 2002.

Nauth, Danny, [2012], Durch die Augen meines Kunden: Praxishandbuch für Usability Tests mit einem Eyetracking System, Diplomica Verlag, 2012.

Bojko, Agnieszka and Adamczyk, Kristin A., [2010], “More than Just Eye Candy – Top Ten Misconceptions about Eye Tracking”, User Experience, Volume 9, Issue 3, 3rd Quarter 2010, www.UsabilityProfessionals.org.

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