Selektive Wahrnehmung

Wie wichtig – lebenswichtig – die visuelle Wahrnehmung ist, wird in Katastrophenfällen deutlich. Am 24. August 2017 ereignete sich ein

Bergsturz in Bondo – Behörde rechnet mit weiteren Murgängen“, von Andreas Doepfner, Stampa/Promontogno / 24.8.2017, 19:24 Uhr, Neue Zürcher Zeitung

„…Auf den überall aufgehängten Postern wird gesagt, dass seit Mitte Juli fünf Millionen Kubikmeter in Bewegung sind und dass «man davon ausgeht, dass ein Teil dieser instabilen Felsmasse in den nächsten Wochen und Monaten als Fels- und Bergsturz niedergehen». Ob nun diese Tafeln in ihrer Ausführlichkeit auf Italienisch, Deutsch, Englisch von risikobereiten Berggängern als Blickfang wahrgenommen werden, kann man sich angesichts der Reizüberflutung fragen.“ (Fettdruck nachträglich hinzugefügt.) 

Jeder Mensch ist durch das gekennzeichnet, was man als selektive Wahrnehmung bezeichnet. Wir könnten nicht Auto fahren, wenn wir nicht in der Lage wären, aus der Fülle an Informationen, mit der wir während der Fahrt bombardiert werden, diejenigen Informationen herauszufiltern und wahrzunehmen, die in diesem Moment auch für die Fahrsicherheit und Orientierung entscheidend sind. Parkverbotsschilder am Straßenrand sind hierbei weniger wichtig als rote Ampeln oder rote Stoppschilder. Diese selektive Wahrnehmung wirkt aber auch in allen anderen Bereichen ganz einfach deshalb schon, weil wir nur relativ wenig Zeit für die Suche und Verarbeitung von Informationen haben.

Selektive Wahrnehmung durch homogene Gruppen

Bildnachweis: https://pixabay.com/en/homeless-blankets-charity-poverty-2090507/

Wer eine sehr selektive Wahrnehmung besitzt, hat sie ganz unabhängig davon, ob er in einer Millionenstadt wohnt oder auf dem Dorf. Es ist kein Problem, auch in einer Großstadt nur das wahrnehmen zu wollen, was man wahrnehmen will. In US-amerikanischen Großstädten mit ihren vielen Obdachlosen und anderen sozial Ausgegrenzten üben sich die meisten Menschen in dem, was man als „Weggucken“ bezeichnet. Der Fotograf Lucas Jackson (Reuters) führt uns mit seiner absolut sehenswerten Fotografie die Brutalität des Wegguckens besser vor Augen, als dies 1000 Worte tun könnten. Diese Photographie stellt auch den Ausgangspunkt zu einem Artikel von Lila MacLellan [2016] (”Blind Spots – Science confirms rich people don’t really notice you — or your problems”) in Quartz vom 23. Oktober 2016 dar, der sich mit der selektiven visuellen Wahrnehmung von einem gewissen Anteil der wohlhabenden Menschen beschäftigt. Wissenschaftliche Studien haben mit Hilfe von Google Glass den Blickverlauf von wohlhabenden Personen, bei der Begegnung mit anderen Menschen verfolgt. [1]

Wer in Hamburg-Blankenese wohnt und nur in den dort ansässigen Clubs verkehrt, hat vermutlich eine sehr eingeschränkte Wahrnehmung unserer Welt. Und obwohl Business Schools vorwiegend in den Metropolen ansässig sind, kultivieren sie die selektive Wahrnehmung ihres Personals und ihrer Absolventinnen und Absolventen gezielt und kurzfristig gesehen auch wirtschaftlich sehr erfolgreich.

Der soziale Druck dörflicher Gemeinschaften hat gleichzeitig auch den sozial gesunden Effekt, mit anderen Menschen im Austausch stehen zu müssen, Anteil an ihrem Leben zu nehmen und sich darin zu üben, auch mit denen zu kommunizieren, die eben nicht 100%ig auf der eigenen Wellenlinie liegen. Auf diese Weise kann auch bei Dorfbewohnern eine breite Wahrnehmung für ganz unterschiedliche Lebensverläufe und Problemlagen entstehen.

Women in wheelchair
Bildnachweis: https://pixabay.com

Und wer dann noch in seinem Leben selbst die Erfahrung gemacht hat – durch Reisen oder längere Auslandsaufenthalte – wie heterogen unsere Welt ist, für den ist nicht der lokale Bahnhof „das Tor zur Welt“, wie das im „Bericht zur Baukultur“ zu lesen ist, sondern das Internet. Selektive Wahrnehmung ist keine Frage des Wohnortes, sondern der Geisteshaltung.

Wem der Austausch mit heterogenen Gruppen und ihren Mitgliedern wichtig ist, der ist in Zeiten des Internets nicht mehr auf die lokale Gruppe an seinem Wohnort beschränkt, sondern dem stehen die Türen zur Weltbevölkerung offen wie noch nie zuvor. Der vermeintliche Standortnachteil für die eigene Wahrnehmung hat deshalb in Zeiten des Internets bei weitem nicht mehr das Gewicht, den er in der Vergangenheit hatte.

Selektive Wahrnehmung – Konsequenzen

So verständlich und häufig auch notwendig unsere selektive Wahrnehmung auch sein mag, sie ist ein Grundübel, das viele negative Konsequenzen nach sich zieht. Das beginnt damit, dass große Teile unserer Bevölkerung aus dem Bewusstsein der Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik verschwunden sind. Wer sich hinter seinem iBook in den angesagten Starbucks Cafés in Berlin vergräbt, der nimmt vermutlich auch nur noch seinesgleichen aus der digitalen Wirtschaft wahr und übersieht dabei die gesamte ältere Bevölkerung sowie Menschen mit körperlichen Einschränkungen, Menschen mit Migrationshintergrund, die nicht über einen Hochschulabschluss verfügen, Kinder, Alleinerziehende und die „funktionalen Analphabeten“ – wie Menschen mit Leseschwierigkeiten von den Pädagogik-Professoreninnen Grotlüschen und Riekmann [2012] in ihrer Studie nicht gerade allzu empathisch bezeichnet werden. Zählt man sie zusammen, so kommt man leicht auf Bevölkerungsanteile, die oberhalb von 30 % liegen. Das ist dann mehr, als jede im Bundestag vertretene Partei bei der letzten Bundestagswahl an Wähler gewinnen konnte. Solche Märkte links liegen zu lassen, können sich nur Kleinstunternehmer leisten, die Nischen bedienen.

Übersehene Märkte

Unternehmer – wollen sie erfolgreich sein – sollten aber anders als Manager von Unternehmen oder politischen Nischenparteien denken. Sie sollten ganz aktiv nach marginalisierten potenziellen Käufergruppen suchen, die von anderen Unternehmen übersehen wurden. Aber viele Unternehmensgründer wollen Produkte produzieren, die sie und ihre Freunde auch gerne kaufen würden. Unternehmensgründer sind z. B. überproportional männlich und jung. Schnelle, frisierte Autos, die möglichst viel Krach machen und Eindruck bei den Freundinnen schinden können, sind solche Produkte, an denen sicher kein Mangel besteht, weil es genügend Jungs gibt, die irgendwie dann doch nicht so richtig erwachsen werden wollten und lieber Porsche fahren würden, während sie ihre WhatsApp-Nachrichten auf ihrem iPhone am Steuer lesen.

Die nebenstehende Grafik zeigt die relativen Anteile der Gesamtbevölkerung nach Altersgruppen in Deutschland im Vergleich mit den relativen Anteilen der Start-up-Unternehmensgründer nach Alterszugehörigkeit. In jungen Jahren (25 bis 34 Jahre) sind Unternehmensgründer ungleich häufiger anzutreffen als Menschen in der Gesamtbevölkerung. Während es bei den Älteren (55 bis 64 Jahre) genau umgekehrt ist.

Altersunterschiede Start-Up gründer

Wenn aber bei den Produkten und Dienstleistungen für junge Männer die meisten Chancen und Marktnischen bereits von Unternehmensgründern entdeckt wurden, weil sie ihnen inhaltlich sehr naheliegen, wo könnte diese Gruppe statt dessen unentdeckte Märkte identifizieren, die ihnen viel bessere Erfolgschancen bieten? Die Antwort ist denkbar einfach. Bei der Suche hiernach muss man den Abstand zwischen den Lebenswirklichkeiten der potenziellen Unternehmensgründer, die zu Konkurrenten werden könnten, und denen der übersehenen Kundengruppen maximieren. Auf welche Kundengruppe würden solche Überlegungen hinauslaufen? Eine einfache Gegenüberstellung gibt die Antwort.

Charakteristika typischer UnternehmensgründerCharakteristika übersehener Kundengruppen
1. männlich,1. weiblich,
2. jung,2. sehr alt,
3. übertrieben selbstbewusst und3. unsicher und verletzlich und
4. Gewinn- und Status-orientiert.4. marginalisiert.
BioBeat Watch and App
Bildnachweis: Snapshot aus dem Produktprospekt BioBeat products. 2017.pdf

Erfolgversprechender für diese Unternehmensgründer ist es daher, Produkte zu entwickeln, die ihre Mütter und Großmütter brauchen. Ein Beispiel eines Unternehmens, das momentan eine Innovation auf den Markt bringt, das ein E-Health Wearable für die Gruppe der Älteren und diejenigen, die sich um sie kümmern, entwickelt hat, ist das israelische Start-up-Unternehmen Bio-Beat. Dieses Wearable misst und überwacht nicht nur kontinuierlich alle wesentlichen vitalen Körperfunktionen, sondern sendet diese Messungen an eine beliebige Telefonnummer und erlaubt damit einer Pflegekraft oder einem Verwandten ständig über den Gesundheitszustand dieser Person informiert zu sein. Ältere Menschen, deren Kinder nicht mehr in ihrem Haus, sondern räumlich getrennt wohnen, können auf diese Weise sicher sein, dass jemand auf ihren Gesundheitszustand aufpasst und gegebenenfalls Hilfe verständigt, auch dann, wenn sie dies selbstständig nicht mehr leisten können.

Dass es sich hierbei nicht um einen verschwindend kleinen Nischenmarkt handelt, sondern um einen der größten Märkte überhaupt, zeigt ein Blick auf die Statistiken. Die nebenstehende Grafik zeigt die Entwicklung der Anzahl der Beschäftigten in Deutschland vom 30.6.1999 bis zum 31.3.2013. Sie zeigt, dass insgesamt mehr als 800.000 Menschen in Deutschland in der Alten- und Behindertenpflege arbeiteten. Das ist eher mehr als weniger im Vergleich mit der Automobilindustrie. In der Produktion und im Vertrieb von Produkten, die die Pflege und Hilfe für diese Menschen unterstützen, arbeiteten noch einmal mehr als 65.000 Menschen. [2]

Pflegebeschäftigte Deutschland

Jedem, der auch nur über etwas ökonomisches Verständnis verfügt, sollte angesichts solcher Dimensionen sofort klar sein, dass auf zeitsparende Innovationen für die Arbeit dieser 800.000 Menschen allein in Deutschland einer der größten Märkte überhaupt wartet. Dementsprechend werden solche Innovationen auch ökonomisch belohnt werden. Aber wie viele Start-up-Unternehmer der Berliner Gründerszene werfen mehr als nur einen Blick auf staatliche Statistiken wie diese, die ihre eingeengte, selektive Wahrnehmung wieder verbreitern könnte? Altenheime sind ja regelrechte „no-go-areas“ für die Szenegänger der Gründerszene der digitalen Wirtschaft.

Was haben übersehene Bevölkerungsgruppen und damit Märkte mit Eye-Tracking zu tun?

Kommen wir hier nicht weitgehend vom Thema Eye-Tracking ab? Was haben übersehene Bevölkerungsgruppen mit Eye-Tracking zu tun? Es ist richtig, dass sich der Schwerpunkt unserer Education Website auf die Methode Eye-Tracking konzentriert, sozusagen auf die Produktionsseite entscheidungsrelevanten Wissens. Aber ohne die Marktsicht, die Sicht auf die Kunden, die Nutzer, die Internetseitenbesucher etc. fehlt die Verbindung mit den Werten, die diese Methode für die Menschen schaffen kann und die Unternehmen, die sie bedienen.

Eye-Tracking ist kein Selbstzweck, sondern dient den Menschen. Wenn z. B. die Usability von Geräten oder Websites verbessert werden soll, dann fragt sich natürlich, wer die Nutzer bzw. Besucher sind, welche Bildung und Erfahrung sie mit solchen Geräten und dem Internet haben und wie alt sie sind. Wenn die Personen der Testgruppe einer Eye-Tracking Studie stark von der tatsächlichen Zusammensetzung der Zielgruppe abweicht, dann sind natürlich auch die Studienergebnisse wenig aussagekräftig. Deshalb dürfen die häufig marginalisierten Bevölkerungsgruppen auch in der angewandten Eye-Tracking Forschung nicht einfach übersehen werden. Das ist aber ein durchaus reales Problem. Akademische Eye-Tracking Forschung steht dauernd dem Finanzierungsproblem gegenüber und ist deshalb gezwungen, die Kosten bei der Rekrutierung der Probanden dadurch zu senken, dass für die Studien junge Studenten herangezogen werden. Das ist aber eine sehr spezielle Gruppe in Bezug auf Alter, Bildung, Internet-Erfahrung und Einkommen bzw. Vermögen.

Soll z. B. die Usability von medizintechnischen Geräten getestet und verbessert werden, dann muss die Testgruppe aus Krankenschwestern bestehen, die ähnlich heterogen in Bezug auf Kultur und Muttersprache ist, wie die Realität in deutschen Krankenhäusern heute aussieht. Ein anderes Beispiel: Für die Innovationen der FinTech-Industrie ist die Mensch-Maschine Schnittstelle mitentscheidend für den Erfolg. Aber die wichtigste Gruppe im Private Banking in Bezug auf das Vermögen sind die Kunden, die vom Alter typischerweise ein bis zwei Generation älter sind als die Webentwickler. Wenn die Testuser wiederum nur aus der Gruppe der Entwickler und ihren Freunden bestehen, dann sind Enttäuschungen auf beiden Seiten im wahren Sinn des Wortes vorprogrammiert.

Bedienungsprobleme an der Mensch-Maschine und an der Mensch-Computer Schnittstelle

Die Renaissance des NOKIA-Handys sollte allen App-Entwicklern eine Lehre sein, dass große Teile der Bevölkerung – eben die besonders kaufkraftstarken und vermögenden älteren Menschen – gar kein iPhone wollen. Sie sind von ihrem Handy nicht so emotional abhängig wie ihre 17-jährigen Enkelinnen, sondern wollen mit ihrem Mobilfunkgerät vor allem eins: telefonieren. Und darauf wollen sie sich konzentrieren und nicht auf die mittlerweile kaum noch zählbar vielen Funktionen eines iPhones.

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„https://www.youtube.com/watch?v=8hrb-8jOq08“
„MWC 2017: Nokia 3310 is a modern take on a classic phone“
Sind großen Kundengruppen – wie die Senioren und Menschen mit Migrationshintergrund erst einmal aus dem Bewusstsein der Entscheidungsträger – wie z. B. bei Apple – verschwunden, dann kann man auch bei der Bedienung der Geräte darauf verzichten, danach zu fragen, ob diese Kunden das Gerät überhaupt ausreichend gut bedienen könnten. Sie werden es dann auch nicht können, weil eben an sie gar nicht gedacht wurde. Solche Bedienungsprobleme sind daher eine weitere Konsequenz selektiver Wahrnehmung. Mangelnde Usability beginnt häufig mit der eingeschränkten Wahrnehmung der Entwickler.

Übersehene Marktchancen für Start-up-Unternehmer

Ein weiterer Grund, weshalb wir hier relativ breiten Raum dem Problem der selektiven Wahrnehmung geben, erklärt sich aus der Tatsache, dass dies dazu führt, dass andere Unternehmen große Käufergruppen vollständig ignorieren und damit hervorragende Marktchancen für Start-up-Unternehmer schaffen, die für diese Menschen Produkte und Dienstleistungen produzieren wollen. Wie bereits im Abschnitt zu unseren Zielsetzungen erwähnt, richtet sich unsere Website insbesondere an die vielen innovativen Start-up-Unternehmer im Bereich Eye-Tracking. Einige von ihnen wollen sicher auch innovativ in Bezug auf das Erschließen vernachlässigter Kundengruppen sein.

[1] Gates, Sara, [2014], People Disguised As Homeless Ignored By Loved Ones On Street In Stunning Social Experiment, Huffingtonpost, Apr 24, 2014. http://www.huffingtonpost.com/2014/04/23/make-them-visible-homeless-video_n_5200574.html

[1] MacLellan, Lila, [2016], ”Blind Spots – Science confirms rich people don’t really notice you — or your problems”,  Quartz, October 23, 2016.

[2] Es ist dieser Bereich, zu dem auch die Wearables für E-Health gehören.

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